Text Otto Herz: Inklusion ist eine Haltung. Eine Haltung, aus der Handlungen erwachsen. 
 Für die Haltung Inklusion sind bestimmte Werte bestimmend. Die Werte lassen sich in einfachen Sätzen sagen: Grundsätze. Die Werte umzusetzen, mag nicht immer ganz einfach sein. 
Denn inklusive Haltungen und Handlungen sind radikal: sie gehen an die Wurzeln (radix, lat.: die Wurzel). 
An die Wurzeln unseres Menschenverständnisses, an die Wurzeln unserer Menschheitsvorstellungen. Darum ist das Inklusive Denken und Handeln auch grundgelegt in einer Konvention der Vereinten Nationen, der UN. Inklusion ist Menschenrecht. Menschenrechte können und müssen umgesetzt werden. Menschenrechte haben universale Gültigkeit. Sie stehen für nichts und niemanden zur Disposition.Sie stehen schon gar nicht unter „Haushaltsvorbehalt“. Wer Inklusion nicht lebt, verletzt Menschenrecht. Inklusion ist ein weites, ein allumfassendes Menschen- und Welt-Verständnis. Das weite Inklusionsverständnis darf nicht auf ein enges reduziert werden. Das weite Inklusionsverständnis meint: Alle können mit Allen in all ihrer Unterschiedlichkeit frei und fröhlich, selbstbestimmt und sozial verantwortlich zusammen leben, zusammen lernen, zusammen arbeiten – zusammen sein. Inklusion und Integration sind zweierlei.
Inklusion darf mit Integration nicht verwechselt werden. Inklusion auf Integration zu reduzieren, wird dem Menschenrecht auf Inklusion nicht gerecht. Warum meinen Integration und Inklusion etwas grundsätzlich Verschiedenes? Integrieren kann ich nur Jemanden oder etwas, der oder was vorher ausgesondert wurde. Integration ist immer ein nachträglicher Vorgang. Der Integration ist die Aussonderung immer vorangegangen. Inklusion meint: es wird nicht mehr ausgesondert. Alle in aller ihrer Unterschiedlichkeit leben, lernen, arbeiten: mittendrin in der Fülle des Seins. Grundsätzliche Werte von Inklusion sind: Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch ist ein Original. Wer aus Originalen Kopien machen will, gefährdet die Menschlichkeit des Menschen. Er oder sie handelt - das mag sehr hart klingen - tendenziell unmenschlich, jedenfalls nicht menschengerecht. Jeder Mensch ist kompetent. Ja: jeder Mensch ist außerordentlich, hoch begabt. Jeder Mensch hat seine Stärken. Jeder Mensch hat seine Schwächen. Die Stärken lassen sich stärken, die Schwächen lassen sich schwächen. Wilfried Steinert, der Inklusions-Experte, sagt:„Wenn wir den Menschen nicht auf seine Mängel fixieren, sondern ihn in seinen unerschöpflichen Ressourcen sehen, können wir Zukunft gestalten.“ Lothar Brozio spricht von einer Könnens-Kultur, die unser Denken und Handeln prägen möge. Aus der Einzigartigkeit jedes Menschen folgt, dass menschliche Gemeinschaften immer vielfältig sind. Homogenität ist eine Fiktion. Heterogenität ist Normalität. Die normale Vielfalt und die Normalität der Vielfalt ist jeder Einfalt überlegen. Um der Einzigartigkeit aller Menschen gerecht zu werden, dürfen wir Menschen nicht an vorgegebene Systeme anpassen. Wir haben Systeme mit und für die Menschen so zu gestalten, dass sich alle Menschen in ihnen für sich und gemeinsam - optimal - entfalten können. Wie sehen nun konkrete Handlungen aus, die aus der inklusiven Haltung erwachsen? Angesichts der prinzipiellen Vielfalt des Menschen und der Menschheit kann es keine geschlossenen und auch keine abschließenden Handlungskataloge geben. Besinnung und Neubesinnung sind immer und immer wieder angesagt. Sinn investieren geht jedem anderen Investieren sinnvollerweise voraus. Das folgende Dutzend von Beispielen - speziell aus dem Lernbereich - mögen Anreiz, Ansporn, Anspruch sein, inklusive Alltage alltäglich werden zu lassen. Sie wollen - weiter! - entwickelt und noch weiter konkretisiert werden. Die jeweiligen Kontexte erweitern sich dadurch und nehmen auch immer wieder neue Gestalten an... Wer die Lernstätte betritt, wird in den Sprachen der Welt WILLKOMMEN geheißen. Blindenschrift ist eine Sprache unter vielen. Wer nicht hören kann, darf sehen. Wer weder hören noch sehen kann, darf fühlen. Die Feste der Völker der Welt werden - am besten mit authentischen Repräsentanten - gefeiert. Das freudvolle Erleben von kultureller Verschiedenheit in der Gemeinsamkeit vertieft das inter-kulturelle, das multi-kulturelle, das transkulturelle Verstehen. Achtung und Achtsamkeit wachsen. Zugangswege sind so gestaltet, dass niemand draußen bleiben muss. Ausgangswege sind so gestaltet, dass alle selbst-bestimmt gehen können. Jemandem „unter die Arme zu greifen“ kann oft die menschlichere Lösung sein als die Perfektionierung technischer Hilfsmittel - ohne menschlichen Kontakt. Menschen geht es in aller Regel gut, wenn sie sich „getragen“ wissen. Ein größtmögliches Maß an eigenbestimmtem Handeln durch technische Hilfsmittel gibt - erwünschte - Freiheit: und schließt soziale Zuwendung dennoch nicht aus. Nächstenliebe ist immer auf menschliche Nähe angewiesen. Demonstrative Dauerdistanz und Nächstenliebe schließen sich aus. Leistungen werden erbracht, wenn sich jemand dazu befähigt fühlt. Arbeiten werden abgegeben, wenn jemand seine Arbeit aus der Hand geben will. Leistungsbewertungen orientieren sich an den Leistungs-Möglichkeiten der einzelnen Personen. Es gibt keine abstrakte, keine generalisierte Norm, die für Alle unter allen Umständen gilt, an denen Alle - vergleichend - gemessen werden. Soziale Gleich-Würdigkeit und respektvolle Gleichwertigkeit sind wichtiger als formale Gleichheit. Leistungsbewertungen sind vor allem dialogische Prozesse, in die die verschiedenen Sichtweisen einfließen und Wert-Schätzung erfahren. Wer lern- und lebensverstört ist, sucht sich und/oder bekommt Lern- und Lebensbegleiter, die über die Verstörungen hinweghelfen. Verstörte Menschen sind oft die Opfer verstörender Verhältnisse. Werden verstörende Verhältnisse entstört, entstehen neue Chancen gerade für die, die dann keine „Störenfriede“ mehr sind. Mehrheiten haben nicht per se recht. Die Rechte von Minderheiten zu achten ist „heilige“ Pflicht. Pflicht ist es auch, dass sich Mehrheiten und Minderheiten untereinander immer und immer wieder austauschen. Es gibt kein Recht, sich kommunikationslos abzuschotten, sich selbst auszugrenzen. Wo Grenzen zum berechtigten Rückzug angesagt sind, einzuräumen sind, ist immer wieder auszuhandeln. Es gibt keinen - oder eher nur selten - einen für allen verpflichtenden Lernstoff. Fast allen Lernbereichen können sich Menschen auf unterschiedliche Weise nähern. Die je eigenen Fragen sind der Ausgang des Lernens und Arbeitens. Komplexe Aufgaben - wie im Theaterspiel oder in einer Band oder beim Bau eines Seifenkistenautos oder bei vielsprachigen Flugblättern oder, oder, oder - werden in Teams angegangen; Teams, in denen jede und jeder ihre und seine nützliche Rolle für die Gesamtheit und für das Gesamtwerk finden kann. Individualisierte Lern-Pläne treten immer mehr an die Stelle generalisierter Lehr-Pläne. Den je eigenen Fragen der Individuen nachzuspüren ist wichtiger als die routinierte Verbreitung vorgestanzter Antworten. Unser Denken spricht in unserer Sprache. Unsere Sprache formt unser Denken. Inklusives Denken und Handeln geht mit hoher Sprachsensibilität einher. Etikettierende Begriffe und Ausdrucksweisen werden gemieden. Es gibt keine „I-Klassen” und schon gar keine „I-Kinder”. Menschen haben zuvörderst persönliche, individuelle Namen und heißen nicht verallgemeinert nach Hautfarbe, Herkunft, Aussehen, Fortbewegungsart, Sinnesorganen, Temperament, Chromosomen... Zuerst ist jedes Ich ICH - und erst dann möglicherweise Mitglied einer Merkmals-Gruppe. Was Individuen können und wollen, von den Stärken jeder Person wird immer zuerst und überwiegend gesprochen. Dann und danach können auch Einschränkungen - die Ganzheitlichkeit einer Personen ergänzend - genannt werden. Weil alle Vielerlei und jede Frau und Jedermann Bestimmtes können und niemand nichts, ist Team-Arbeit und Team-Leben kennzeichnend für Inklusion. Bei Kindern und Jugendlichen ist das nicht anders als bei Erwachsenen. Aufgaben sind in der Regel Team-Aufgaben. Herausforderungen werden gemeinschaftlich angegangen. Chancen werden gemeinsam erkannt und verwirklicht. Inklusions-Kollegien sind multiprofessionelle Teams. Kompetenzen, die im Team - noch - nicht vorhanden sind, werden durch Kooperationspartner aus dem Umfeld eingeholt. In inter-aktiven Runden der Emotion und der Reflexion spüren die Vielen in der Gemeinsamkeit nach, ob und wie die Bedürfnisse der Einzelnen und der Gemeinschaft schon erfüllt wurden, wie sie noch besser erfüllt werden können. Sich mit Fremdem anzufreunden ist Leitprinzip allen Lernens und Handelns. Sich mit Fremdem anzufreunden ist zusätzlich ein eigenes, ein zentrales Lernfeld mit hohem Gewicht und von herausgehobener Bedeutung, das von Allen - weitgehend selbst-bestimmt und dennoch dialogisch abgestimmt - mit Phantasie und Realismus angegangen und ausgefüllt wird. Weil nichts Inklusives abgeschlossen sein kann - Inklusion heißt nicht, ein- oder abschließen, sondern auf-schließen, heißt nicht weg-gehen, sondern aufeinander zu-gehen - ist hier Platz für SIE und für DICH, dem Inklusiven Leben durch das Zusammenleben, dem gemeinsamen Lernen und Arbeiten, dem umfassenden SEIN: Ihre und Deine eigene Facette hinzuzufügen... Alles WEITER-Denken sei durchdrungen von der Weisheit des Talmud: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.”